Neue Struktur kommt: Fret SNCF kämpft um das Überleben

Neue Struktur kommt: Fret SNCF kämpft um das Überleben

Zusammenstellung einer Komposition von Güterwagen auf dem Rangierbahnhof von Valence: Nur noch der Einzelwagen-Verkehr wie hier im Bild soll bei der "neuen" Fret bleiben. Foto Hermann Schmidtendorf
Die Zerschlagung des staatlichen französischen Unternehmens für Schienengüterverkehr Fret SNCF hat begonnen. Im Wirtschaftsdienst „actu transport logistics“ erklärte am 27. November 2023 der SNCF-Frachtverkaufs- und Marketingdirektor Edouard Laverny: „Zwischen dem 10. Dezember und dem 1. Januar 2024 werden 13 der 23 betroffenen Verkehrsströme umgestellt.“ Anders formuliert: Fret SNCF ist bereits dabei, einen Großteil kommerziell interessanter Verkehrsverträge an die Konkurrenz abzugeben.
Er muss die “Diskontinuierung” von Fret SNCF vorantreiben: Edourd Laverny (links), hier im Interview für “fret on fer”. Foto SNCF Réseaux

Weiter erklärte Laverny: „Wir müssen hier bedenken, dass diese Unterbrechung der Dienstleistungen 30 % unseres Verkehrs, ausgedrückt in transportierten Tonnenkilometern, oder 20 % unseres Umsatzes und 10 % unserer Belegschaft betrifft. Die Übertragung der 23 betroffenen Ströme, darunter 21 im Zusammenhang mit dem kombinierten Verkehr, hat begonnen. Bereits jetzt wurden Verkehrsströme zwischen Deutschland und Spanien sowie eine Eisenbahnautobahn zwischen Calais und Sète auf andere Betreiber übertragen. Diese Bewegung wird sich im Zuge der nächsten Fahrplanänderung am 10. Dezember 2023 beschleunigen.“

PISTOLE AUF DIE BRUST: ENTWEDER SCHRUMPFEN ODER SUBVENTIONEN ZURÜCKGEBEN

Der Abbau des einst führenden französischen Gütertransporteurs Fret SNCF läuft unter dem euphemistischen Begriff „Diskontinuitätsplan“. Das Drama ist das Ergebnis umstrittener Entscheidungen des französischen Staates. Der Schienengüterverkehrsmarkt ist in Frankreich seit 2006 für den Wettbewerb geöffnet. Seit Anfang 2023 läuft in Brüssel eine Untersuchung wegen angeblich illegaler Beihilfen, von denen Fret SNCF zwischen 2007 und 2019 profitiert habe. Es geht insbesondere um den Erlass ihrer Schulden in Höhe von 5,3 Milliarden Euro. Diese wurden bei der Neugründung Anfang 2020 im Zuge der letzten Bahnreform in die Schulden der SNCF-Konzernholding integriert. Die EU hält diesen Schuldenerlass für illegal und könnte das Geld von Fret SNCF zurückfordern.

Clément Beaune. Foto EU

Am 23. Mai 2023 hatte der französische Transportminister Clément Beaune die bisherige Politik verteidigt. Die EU-Vorschriften buchstabengetreu anzuwenden, würde bedeuten, gleichzeitig den Green Deal-Plan Europas und das französische Klima- und Resilienzgesetz zu „torpedieren“, das eine Verlagerung des Güterverkehrs vom Lkw auf die Schiene vorsieht. Da sich der Staat in schwierigen Verhandlungen mit Brüssel befinde, lehnte Beaune aber ein juristisches Kräftemessen ab.

So schlug Beaune die freiwillige Liquidation der Gütersparte Fret SNCF vor. Es solle ein neues Unternehmen mit einem anderen Namen gegründet werden, das keine Verbindung zu Fret SNCF hat, aber weiterhin öffentlich sein wird, also mehrheitlich von der SNCF kontrolliert. In der Finanzierungsrunde könnte sich auch ein Minderheitsaktionär finden – vorzugsweise öffentlich, aber auch privat. Zugleich kündigte er eine Erhöhung der Mittel für den Güterverkehr an.

SCHLECHTE BAHN-INFRASTRUKTUR…

Organisiert in Regionen, verbunden durch regelmäßigen Ganzzug-Verkehr auf sogenannten „Güter-Autobahnen“ der Schiene – diese Struktur wird es so bald nicht mehr geben.

Wie konnte es überhaupt zu den schlechten Finanzergebnissen bei Fret SNCF kommen? Das diskutierten im September 2023 Abgeordnete mit Experten in einer parlamentarischen Untersuchungskommission der Nationalversammlung. Guillaume Pepy, ehemaliger CEO der SNCF, verwies auf eine massive und chronische Unterinvestition in die Infrastruktur. Diese machte Fret SNCF sehr schnell deutlich weniger wettbewerbsfähig im Gütertransport als die Straße. So sei schon der letzte von Brüssel im Jahr 2005 genehmigte Hilfsplan für Fret SNCF angesichts des aufkommenden Wettbewerbs auf der Schiene zu klein geschnitten gewesen.

… „GREVICULTURE“ UND FEHLENDE ÖKOLOGIE-STEUER

Vor allem habe die Tochtergesellschaft „Bleifüße“ mit hohen Produktionskosten, unzureichender Organisation, dem Fehlen einer Kundenkultur und der schädlichen „Greviculture“. Das französische Wort „grève“ bedeutet Streik. Das französische Wörterbuch Larousse erklärt den Begriff „greviculture“ wie folgt: „Pejorativ: Tendenz, während eines sozialen Konflikts fast systematisch zu Streiks zu greifen und so ein Machtgleichgewicht mit den Arbeitgebern herzustellen.“ Tatsächlich richten sich in Frankreich Streikaktionen vor allem gegen öffentliche Unternehmen und Behörden, so dass SNCF sowie Fret SNCF stärker unter Streiks litten als private Mitbewerber.

Außerdem kritisiert der frühere SNCF-Präsident Guillaume Pepy, dass der ehrgeizige Wiederaufbauplan für den Schienengüterverkehr nicht weiterverfolgt wurde, den der damalige Umweltminister Jean-Louis Borloo

Guillaume Pepy. Foto Hermann Schmidtendorf

2009 vorgelegt hatte. Der „brutale Verzicht“ der Umweltministerin Ségolène Royal im Jahr 2014 auf die Ökosteuer, die schwere Nutzfahrzeuge belasten sollte, war für Pepy „ein echter Schlag ins Gesicht“.

„Wir hatten unsere gesamte Strategie auf der Tatsache aufgebaut, dass es die 2009 beschlossene Ökosteuer geben würde. (…) Wir hatten Schwierigkeiten, darüber hinwegzukommen, weil sie ein wesentliches Element für die Neuausrichtung von Schiene und Straße war.“ Das sieht der derzeitige SNCF-Chef Jean-Pierre Farandou genauso. Er erinnerte die Abgeordneten daran, dass diese Steuer jährlich rund 1 Milliarde Euro einbringen sollte.

„EPIC“ – FALSCHE ORGANISATIONSFORM IM „FAULEN REGULIERUNGSSTAAT“

Interessante Überlegungen präsentierte im Untersuchungsausschuss Matthias Emmerich, ehemaliger stellvertretender Generaldirektor der Güterverkehrssparte der SNCF. „Die erste Beobachtung, die mir auffiel, war die einer verzweifelten finanziellen Situation trotz der Monopolsituation“, erläuterte Emmerich. „Ich erinnere mich, dass ich im Jahr 2003 beim Lesen der Einzelabschlüsse das starke Gefühl verspürte, einem bankrotten Unternehmen beizutreten – quasi Bankrott aufgrund des Fehlens einer voll funktionsfähigen Unternehmenseinheit. Die stark dezimierte Bilanz wies ein negatives Eigenkapital und Schulden in Höhe von 1,6 Milliarden Euro auf. Es versteht sich von selbst, dass der Wechsel zur Konkurrenz angesichts einer solchen finanziellen Situation und einer so schlechten Bilanz nur ein hochfliegendes Unterfangen sein konnte, dessen Erfolgsaussichten außerordentlich gering waren.“

Ein wesentlicher Grund für die schlechte Lage des SNCF-Güterverkehrs war nach Meinung Emmerichs der juristische Status. „Fret SNCF war bis zur Reform 2020 eine private Abteilung mit sozialem Status eines öffentlichen Industrie- und Handelsunternehmens (EPIC), das zunächst SNCF und dann SNCF Mobilités hieß. Jede Aktivität, die innerhalb eines EPIC stattfindet, profitiert von der impliziten Unterstützung des Staates… In meinen Augen liegt hier der Ursprung der Inflation einer Schuldenblase über fünfzehn Jahre hinweg mit fünf Milliarden Euro.“
Der Containertransport soll an die Konkurrenz gehen. Foto © JC Milhet – Fret SNCF

Mathias Emmerich ist überzeugt: „Wäre Fret SNCF eine Aktiengesellschaft gewesen, wäre die Frage ihrer Rekapitalisierung schon vor der Marktöffnung aufgeworfen worden, und zwar mehrfach. Was wir jetzt beobachten, ist nur der Höhepunkt von fünfzehn Jahren der Unterdrückung dieser Frage, die durch die scheinbar schmerzlose Auffüllung der SNCF-Güterdefizite in einem EPIC verschleiert wurde. Darüber hinaus machte diese stille Lösung den Regulierungsstaat faul.“

„VORGEHEN DER EU IST HEUCHLERISCH UND KONTRAPRODUKTIV“

Emmerich ist sich sicher, dass Fret SNCF in den letzten Jahren schon massive Verbesserungen und Investitionen aus eigener Kraft durchführte. Deshalb sollte die Kritik der EU an der Vergangenheit nicht die heutige Fret SNCF treffen.

Dem stimmte Alain Krakovitch zu, der ehemalige Koordinator des Plans zur Frachtumstrukturierung der SNCF und Generaldirektor von Voyages SNCF: „Dass wir heute dafür kritisiert werden, wird als etwas sehr Unfaires empfunden … Wir haben gerade den Einzelwagentransport beschrieben, eine Tätigkeit, in der sich nur die SNCF positioniert hatte und die Geld verlor. Ich erinnere mich noch gut daran, dass es damals nicht ganz klar war, dass die SNCF mehrere Milliarden für diese Tätigkeit ausgeben würde, die sie nicht anderswo verwenden konnte – insbesondere für die Entwicklung des Personenverkehrs, der viel profitabler ist! Wir hatten das Gefühl, verantwortlich zu sein, indem wir Milliarden in eine Aktivität investierten, die sicherlich unrentabel war, von der wir uns aber bewusst waren, dass sie für das Land und aus ökologischer Sicht notwendig war.“

Wird es der von der Regierung vorgelegte Plan ermöglichen, die neue SNCF Fret wieder auf einen geraden Kurs zu bringen? Die Gewerkschaften bezweifeln es. Laurent Brun von der CGT-Cheminots, der führenden Gewerkschaft der SNCF, hält das Vorgehen der EU für „heuchlerisch, unfair und kontraproduktiv“. Der Plan der Regierung werde dem SNCF-Güterverkehrsgeschäft „die profitabelsten Züge“ entziehen, kritisierte er.

„NEW FRET“ UND „NEW MAINTENANCE“ AB 2025

Eine ungeklärte Frage: Mit welchen Lokomotiven soll die Konkurrenz künftig die Verkehre abwickeln? Foto Fret SNCF

Der vom französischen Staat in Brüssel vorgelegte Plan sieht eine Phase der Restrukturierung bis zum Juli 2024 vor. Die formelle Gründung eines neuen Unternehmens „New Fret“ soll dann am 1. Januar 2025 stattfinden. Dieses Frachtunternehmen muss das „Kapazitätsmanagement“ übernehmen, also die Züge mit „isolierten Waggons“ verschiedener Kunden – kurz gesagt, den Einzelwagenverkehr. Diese wenig rentablen Aktivitäten machen 80 Prozent des Umsatzes und 70 Prozent des Fret SNCF-Verkehrs aus. Ein anderes Unternehmen, New Maintenance, muss sich, wie der Name schon sagt, um die Wartung des Rollmaterials kümmern. Diese Aktivität war vor der im Jahr 2020 eingeführten Bahnreform nicht in Fret SNCF enthalten. Ein Minderheitsaktionär soll eine Beteiligung an diesen beiden neuen Unternehmen erwerben. Diese werden zusammen mit den anderen Tochtergesellschaften Captrain, Naviland Cargo, VIIA und Forwardis in die Schienengüterverkehrssparte der SNCF-Gruppe, Rail Logistics Europe, eingegliedert.

Etwa 3.900 Beschäftigte bei Fret SNCF sollen automatisch nach New Fret und 500 nach New Maintenance versetzt werden. Zu klären bleibt die berufliche Zukunft von etwa 450 bis 480 Beschäftigten, die in „dedizierten Zügen“ arbeiten, also bei Ganzzügen. Der Ganzzugverkehr soll von Konkurrenzfirmen übernommen werden – wenn sie es wollen, mit den bisherigen SNCF-Mitarbeitenden. Doch diese Perspektive schürt Ängste vor Neueinstufungen mit einem möglicherweise geringeren Gehalt als jetzt.

„Es ist eine Zone der Turbulenzen“, fasst Gilles Dansart, Chefredakteur der Fachzeitschrift Mobilettre, zusammen. Derzeit könne nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne der bestehenden Frachtverträge der Fret SNCF keines der Konkurrenzunternehmen interessieren. In einem solchen Fall könne sogar der Anteil des Schienengüterverkehrs zugunsten des LKW-Transports sinken – ein Risiko, das den staatlichen Klimazielen widerspricht.  

Die französische Regierung will weiterhin den Verkehrsträgeranteil der Schiene im Vergleich zu Straße und Wasserstraßen bis 2030 verdoppeln. Deshalb will sie zwischen 2023 und 2032 zusätzlich 4 Milliarden Euro in die Infrastruktur investieren. Bis 2030 soll die Branche jährlich 200 Millionen Euro an Hilfsgeldern erhalten. Doch noch ist nicht klar, wie die Finanzierung dieses Plans aussehen soll.

Hermann Schmidtendorf, Chefredakteur

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